Im August 2012 nahm ich, nach vielen Jahren wieder, auf Einladung von Yoshijima-sensei und Aizawa-sensei, am Interuni-Seminar teil, das in einer idyllischen Gegend am Yamanakako stattfand. Herr Aizawa bat uns, Herrn Yoshijima und mich, die wir zu den Gründungsvätern dieses Seminars gehören, das nun schon über 30 Jahre besteht, etwas über seine Ursprünge und Hintergründe seiner Entstehung zu berichten. Vieles, was wir über die Entstehung zu sagen hatten, konnte den Teilnehmern verständlicherweise nicht mehr bekannt sein. Später hat man mich gebeten, meinen Vortrag schriftlich zu fixieren und damit einen Schwarz-auf-Weiss-Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Interuni-Seminars zu liefern, vielleicht auch aus dem Bewusstsein heraus, dass das Seminar in seinen 30 Jahren des Bestehens einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Weiterentwicklung der japanischen Germanistik geleistet hat.- Zu wünschen wäre außerdem, dass meine Darstellung mit weiteren Beiträgen aus japanischer Perspektive ergänzt und, wo nötig, korrigiert wird, z.B. von einem der damals beteiligten Professoren und aus der Sicht eines damaligen Studenten, von denen ja einige heute selbst Germanisten sind.
Da wir dieses Seminar von Anfang an als ein Reformseminar begriffen haben, scheint es mir sinnvoll zu sein, zunächst etwas über mich selbst und meinen Bildungswerdegang zu sagen, um besser zu verstehen, aus welchem Geist heraus sich die Reformideen entwickelten, die wir an vielen Nachmittagen in der Todai/Komaba gemeinsam diskutierten.
Ich habe von 1961 bis 1967 Germanistik und Romanistik maßgeblich an der Universität Göttingen studiert, mit einem Auslandsjahr an der Universität Aix-en-Provence und mehreren längeren Aufenthalten an den Universitäten Valladolid und Perugia. Die geistige Atmosphäre an der Universität Göttingen war Anfang der 60er Jahre konservativ in seiner Professorenschaft, traditionell in den Lehrplänen und elitär in den meisten Köpfen der Studenten. Etwa 5000 Studenten waren damals an der Universität eingeschrieben, während es heute über 30 000 sind.
Deutschland hatte 1945 den Krieg verloren. Der politische und ökonomische Neubeginn hatte aber keine Parallele im kollektiven, geistigen Bewusstsein zur Folge. Deutschland war zwar zerstört, aber die Vorkriegsmentalität hatte in ihrem autoritären, konservativen und hierarchisch strukturiertem Denken weitgehend die Stunde null des Kriegsendes überlebt. Die ersten Jahre der Bundesrepublik standen vollständig im Zeichen des Wiederaufbaus. Es musste schnell Wohnraum geschaffen werden für die rund 9 Millionen Flüchtlinge, die aus den östlichen Gebieten Deutschlands in den Westen geflohen waren, und auch die Infrastruktur des Landes war fast vollständig zerstört. Die Wiederaufbauphase ging dann, nach einigen Jahren, nahtlos in die sogenannte Fressphase und die Reisephase über. Nach all den Entbehrungen des Wiederaufbaus wollte man sich wieder sattessen, sich etwas gönnen und in jene Länder reisen, die unsere Väter zum Teil als Soldaten kennengelernt hatten. Wesentlich zu einem erneuerten freiheitlichen politischen Denken hat dann etwa ab Anfang der 60er Jahre die heftig einsetzende Bewegung der sexuellen Emanzipation beigetragen, Emanzipation sowohl von kirchlicher wie staatlicher Bevormundung und obsoleter Paragraphen des Strafgesetzbuches. Man könnte sagen, dass die Mischung dieser bundesrepublikanischen Entwicklungsphasen Anfang der 60er Jahre „kritisch“ wurde. Es begann zu rumoren an den Universitäten. Der Slogan, den alle Studenten kannten, lautete „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“. Ich erinnere, stellvertretend für die Studentenrevolte der 68er Generation an Rudi Dutschke.
Rein äußerlich war die Anrede mit DU zwischen den Studenten, aber auch im Umgang mit den Professoren, ein Zeichen für den Abbau des ELITEDENKENS, der HIERARCHIEN und des RESPEKTS VOR OBRIGKEITEN. Es war eine frische, freie Luft, die langsam in Deutschland zu wehen begann. Der mentale Paradigmenwechsel fand in Deutschland also nicht 1945, sondern ab Mitte der 60er Jahre statt.
Das ist sehr summarisch mein geistiger, universitärer Hintergrund mit einer langsam sich regenden Rebellion gegen eine Denkhaltung, die sich eigentlich schon seit langem überlebt hatte, und die meine Frau und ich 1968 nach Nancy mitgenommen haben, wo wir drei Jahre lang an der Universität Deutsch unterrichteten.
Anschließend gingen wir dann mit einem Doktorandenstipendium für zwei Jahre nach Buenos Aires, wo ich, neben meiner Arbeit an meiner Dissertation, Zeit hatte, über die verschiedenen Arten sozialer Ungerechtigkeit zwischen Erster und Dritter Welt nachzudenken. Sechs Monate lang habe ich diesen Kontinent von Mexiko bis Feuerland durchreist und habe den Gegensatz von arm und reich in all seinen Facetten beobachten können und über die Ursachen dieser Ungleichheit nachgedacht: Das Verständnis der Zusammenhänge von sozialer Ungerechtigkeit und historisch gewachsener Interessen und Machtstrukturen in Lateinamerika sowie die politischen Ideen der 68er Studentenrevolte bildeten die Basis unseres politischen Denkens (Ich möchte hier ausdrücklich meine Frau miteinbeziehen!), als wir Ende 1977 im Auftrag des Goethe-Instituts an das Goethe-Institut Tokyo versetzt wurden.
Aufgrund meiner Ausbildung hatte ich eigentlich mit einer Versetzung nach Lateinamerika gerechnet. Die Versetzung nach Tokyo kam völlig überraschend. Dennoch haben wir uns buchstäblich über Nacht entschieden, das Angebot anzunehmen. Zeit zur Vorbereitung, geschweige denn zum Japanischlernen, war nicht vorhanden. Wir kamen also ziemlich unvorbereitet nach Japan, aber immerhin sehr neugierig auf eine große, alte Kultur, die vom Westen nicht kolonisiert worden war und die die Modernisierung eigenständig und unabhängig in weniger als zwei Generationen geschafft hatte. In diese Phase der Modernisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. reicht die Implementation des Deutschunterrichts als Massenfach in Japan zurück.
Am Goethe-Institut Tokyo war ich verantwortlich für alle Belange des Deutschunterrichts im Institut und speziell für die Zusammenarbeit mit japanischen Professoren und Deutschlehrern, die damals am Institut „Pädagogische Verbindungsarbeit“ genannt wurde. Neben meinen Verpflichtungen im Institut und der Vorbereitung von Seminaren – immerhin mehr als 100 in sieben Jahren – war ein Nachmittag reserviert für den Deutschunterricht an der Todai in Komaba und für ein anschließendes Kolloquium mit den Professoren und fortgeschrittenen Studenten der Germanistik.
Bei meiner ersten Analyse des Deutschunterrichts kam ich zu folgendem Ergebnis:
- Der Deutschunterricht ist traditionell und findet frontal und grammatikorientiert statt. Die Studenten verhalten sich passiv. Die Erarbeitung des Textes geschieht in Form einer Vorlesung.
- Das Lehrer-Schüler –Verhältnis ist stark hierarchisiert.
- Der Unterricht ist übersetzungsorientiert und erinnert entfernt an eine, an europäische Sprachen adaptierte, Kanbun-Methode der Wort-für-Wort-Übersetzung.
- Es werden keine audiovisuellen Medien im Unterricht eingesetzt.
- Informationen über Deutschland, was man damals Landeskunde nannte, wurden kaum gegeben.
Irgendwie war dieser Deutschunterricht in einer seiner früheren Phasen der Einführung in Japan stehen geblieben: das Fach wurde gelehrt, doziert, aber die Sprache nicht wirklich gelernt. Diese Defizite eines nicht aktualisierten Deutschunterrichts waren den Professoren bekannt, und auch das Bewusstsein, dass sich etwas ändern muss, wenn das Fach Deutsch an japanischen Universitäten überleben soll. Davon konnte ich mich in den wöchentlichen Kolloquien mit den Professoren sehr schnell überzeugen.
Über welche Themen haben wir damals im Kolloquium gesprochen? - Es waren vor allem curriculare Überlegungen. Ein Curriculum in einer solchen Situation radikal zu ändern ist problematisch und könnte bei den Beteiligten auf passive Ablehnung stoßen. Uns war klar, dass wir behutsam an mehreren Themen des Fremdsprachenunterrichts gleichzeitig arbeiten, und dass wir das Selbstverständnis der Professoren als Germanisten stark berücksichtigen mussten.
- Eines der delikaten Themen war die FREMDSPRACHENDIDAKTIK, die damals von vielen Germanisten als unwissenschaftlich beiseite geschoben wurde. Sie ist aber notwendig, um sowohl für die Professoren als auch für die Studenten einen stressfreien, motivierenden Unterrichtsablauf zu garantieren.
- Ein weiteres delikates Thema war die LANDES-oder DEUTSCHLANDKUNDE; ein Hauptthema der Kolloquien, und dessen Ergebnisse dann schließlich auf einer der Tokyoter Germanistentagungen mit generalstabsmäßiger Vorbereitung vorgetragen wurde.
- Wichtig erschien uns auch die LEHRERAUS-und FORTBILDUNG, ein Dauerthema, das immer wieder an die veränderten Realitäten des Fremdsprachenunterrichts angepasst werden muss, besonders für diejenigen Germanistikstudenten, die schon fortgeschritten waren. Ihre Sprachkompetenz sollte unbedingt erhöht werden.
- Die Modernisierung der LESEFÄHIGKEIT und der TEXTANALYSE ließen sich dagegen problemlos in das bestehende Curriculum einbauen.
- Ein weiterer wichtiger Gesprächsgegenstand war die Erhöhung der Stipendien der dreimonatigen Programme, die teils in den Goethe-Instituten in Deutschland und teils in den Universitäten stattfanden. Diese Stipendien wurden damals von 10 auf 15 pro Jahr erhöht und das Mombusho war schließlich bereit, auch einige fortgeschrittene Germanistikstudenten zuzulassen, die noch keine Anstellung als Lehrer hatten, die aber das Mombusho damals immer für eine Stipendienvergabe voraussetzte.
Wer nahm an diesen wöchentlichen, informellen Gesprächsrunden, die ich hier Kolloquien nennen will, teil? - Professoren in wechselnder Besetzung, aber mit einem festen Kern. Ich nenne stellvertretend für viele die Professoren Hikaro Tsuji, Kenichi Mishima, Koji Ueda, Osamu Kutsuwada, Ken Asoh und andere.
Alle, die an dem Kolloquium teilnahmen, stimmten von Anfang an darin überein, dass die neue Generation von Germanisten Deutsch nicht nur als grammatisches Regelwerk und die deutsche Literatur nicht nur aus sehr schweren Textvorlagen kennenlernen sollte, sondern zuerst als lebendige, gesprochene Sprache, womöglich kombiniert mit einem Deutschlandaufenthalt. Wir waren sicher, dass dieses Fundament in der Fremdsprache später auch ein sinnvolles Literaturstudium auf hohem Niveau ermöglichen würde. Wir suchten also nach einer Lösung. Der reguläre Unterricht war dafür noch nicht oder sehr wenig geeignet. Die bestehenden Fortbildungsseminare für Germanisten, Typ TATESHINA-Seminar waren ausschließlich für Deutschlehrer und Germanisten reserviert, die schon fest angestellt waren. So haben wir über ein neues Seminar nachgedacht. Natürlich konnte ich mich als Vertreter des Goethe-Instituts bei der Durchführung dieser Reformen nicht nur auf die Tokyo Universität beschränken, wo ich gerade unterrichtete, sondern musste auch die anderen Universitäten mit einbeziehen. In Großtokyo gab es damals etwa 100 Universitäten und an sehr vielen wurde Deutsch unterrichtet. Meine Gesprächspartner im Kolloquium waren skeptisch, ob Teilnehmer beispielsweise von einem Dutzend Tokyoter Universitäten in einem Seminar harmonisch miteinander würden lernen können. Die Universitäten waren ja, nach einem Ranking, das ich nie so richtig verstanden habe, sehr differenziert hierarchisch gegliedert, und es bestand die Sorge, dass dieses hierarchische Ordnungssystem, die Kommunikation unter den Studenten durch sozio-psychologische und, womöglich auch wissensmäßige Differenzen behindern könnte. Im Laufe der ersten Interuni-Seminare stellte sich aber heraus, dass sowohl die Professoren als auch die Studenten der Todai sich ihrer eigenen Defizite bewusst wurden, und die Unterschiede zwischen den Studenten der verschiedenen Universitäten nicht so groß waren, wie wir anfangs befürchtet hatten. Möglicherweise steckten gewisse Vorbehalte gegen ein universitätsübergreifendes Seminar auch eher in den Köpfen der Lehrer als in denen der Studenten. Ich möchte auf diesen, sicherlich nicht unwichtigen , Aspekt der frühen Interuni-Seminare nicht weiter eingehen, sondern sie einer Darstellung aus japanischer Perspektive überlassen, da es sich um eher interne Angelegenheiten der Universitäten handelt. Mir war die Hierarchisierung der Universitäten bis dahin unbekannt. In Deutschland, bevor der Numerus Clausus eingeführt wurde, suchte man sich damals die Universität danach aus, ob die Fächer, die man studieren wollte, an einer Universität gut vertreten waren: Wer z.B. Theologie studieren wollte, ging nach Göttingen oder Tübingen, romanische Sprachen waren in Bonn und Freiburg gut vertreten, und wenn jemand den Militärdienst vermeiden wollte, ging er halt nach West-Berlin. Hierarchisches Denken war außerdem nach 1968 in Misskredit geraten und entsprach gar nicht meinem politisch sensibilisierten Bewusstsein, wie ich es weiter oben skizziert habe. Für die japanischen Professoren war es ein Experiment mit durchaus unsicherem Ausgang, aber immerhin ein Experiment, das man wagen wollte.
Woher kommt der Name I N T E R U N I – S E M I N A R? Auf dem 3. Seminar, das in Kawaguchiko stattfand, wurde ein Preisausschreiben zur Namensfindung des Seminars veranstaltet, das damals der Student Yoshihiko Saito gewann, der heute Professor an der Universität Hirosaki in der Aomori-Präfektur ist. Daraus entstand dann, auf Vorschlag der Organisatoren die Bezeichnung INTERUNIVERSITÄRES SEMINAR FÜR DEUTSCHE UND JAPANISCHE KULTUR, kurz „Interuni-Seminar“. Das organisatorisch Neue hat den Namen geliefert und nicht das Fach, um das es in diesem Seminar gehen sollte.
Das Interuni-Seminar war von Anfang an ein Erfolg. Dazu hat ganz sicher beigetragen, dass die jüngeren Professoren der verschiedenen Universitäten, die in der Planung, Organisation und Durchführung der Seminare aktiv waren, sich untereinander kannten und geschickt eventuelle, sozio-psychologische Spannungen zwischen den Teilnehmern gar nicht erst aufkommen ließen. Eine ganz wichtige Rolle haben dabei von Anfang an auch die DAAD- und die freien Lektorinnen und Lektoren gespielt, die die Situation an ihren Universitäten gut kannten, ihr sprachdidaktisches und literarisches Wissen in die Seminar einbrachten, und vielleicht so etwas wie ein Bindeglied zwischen den Professoren und den Studenten darstellten.
Das Seminar hat uns allen von Anfang an Spaß gemacht. Es war eine Freude zu sehen, wie schnell sich die sprachliche Kompetenz der Studenten verbesserte. Wenn das Seminar, nach nunmehr 30 Jahren, immer noch existiert, dann gibt es dafür mehrere Gründe:
Es hat eine wichtige Lücke im Curriculum der Studenten ausgefüllt, die Germanistik oder Fächer studieren, für die Deutschkenntnisse auch heute noch wichtig sind: Germanistik, Philosophie, Musik, Geschichte u.a.) - Die Organisatoren, Lehrer und Lektoren waren besonders motiviert und haben uneigennützig viel Zeit in die Seminare investiert.
- Die Verwaltungen der beteiligten Universitäten und Institutionen wie Mombusho, Goethe-Institut und Deutscher Akademischer Austauschdienst waren von der Reformidee des Seminars überzeugt und haben die Seminare finanziell unterstützt.
- Mombusho und Goethe-Institut haben gemeinsam die Stipendienquote erhöht, so dass relativ viele Teilnehmer eine Zeit in Deutschland verbringen konnten.
- Ganz entscheidend war auch, dass die grauen Eminenzen der japanischen Germanistik von damals (ohne dass ich hier Namen nenne) diese Reform wollten, und den Reformeifer mancher deutscher Teilnehmer behutsam an die japanische Universitätsrealität herangeführt haben.
So viel zur Gründungsgeschichte des Interuni-Seminars.
Lassen Sie mich kurz noch meinen Eindruck vom diesjährigen Interuni-Seminar in Yamanakako wiedergeben. Der Gesamteindruck ist rundweg positiv. Das Seminar ist interdisziplinärer geworden, und die Studentinnen und Studenten sprechen im Durchschnitt besser Deutsch als ihre Kommilitonen von vor 30 Jahren, da viele schon eine Zeit in Deutschland verbracht haben. Das Thema GRENZEN war ein anspruchsvolles Thema mit teilweise recht schwierigen Texten, so dass auch das Diskussionsniveau recht hoch war.
Ich kann daher dem Seminar nur alles Gute für die Zukunft wünschen, wenn vielleicht auch das Fach Deutsch an japanischen Universitäten ein Orchideenfach geworden ist. Vielleicht liegt die Zukunft tatsächlich in der Interdisziplinarität des Faches, um sich der Kultur eines anderen Volkes zu nähern, nach der Formel „D E U T S C H + “. Dazu ist es aber nötig, dass es auch weiterhin Organisatoren gibt, die ihre Zeit für das Seminar opfern.
In diesem Sinne viel Glück und viel Erfolg.
Dr. Kajo Niggestich Barcelona, im Januar 2013 |
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